Konstitutive antinomische Strukturen des pädagogischen Handelns (Teil 2)

Zu Teil 1

Der folgende Text basiert auf den sechs Hinweisen zum digitalen Fernunterricht von Axel Krommer, Wanda Klee und Phillip Wampfler (Originaltext blau). Angeregt wurde er durch den Blogbeitrag Didaktische Schieberegler. Oder: (Distanz-)Lernen und pädagogische Antinomien von Axel Krommer.

Interaktion vs. Organisation

So viel Peer-Feedback wie möglich, so viel Feedback von Lehrenden wie nötig

Die Frage nach der Bewertung und Prüfungsrelevanz der Aufgaben, die die Lehrerinnen und Lehrer während der Zeit des Distanzlernens stellen, sollte allen Beteiligten transparent und klar kommuniziert werden. Dadurch wird u.a. verhindert, dass Lernprozesse und sozial-emotionale Beziehungen durch unnötigen Leistungsdruck belastet werden. Auch wenn die Schülerinnen und Schüler verpflichtet sind, die Aufgaben zu erledigen, sollte ihnen kein Nachteil daraus entstehen, wenn sie dies in ihren individuellen Situationen nicht in dem Maße schaffen, wie es ihnen vielleicht im Präsenzunterricht möglich wäre. Lehrende sind daher angehalten, mit Augenmaß und größtmöglichem Wohlwollen zu handeln. Ein einfaches und pragmatisches Vorgehen besteht darin, schlechte oder nicht (rechtzeitig) erbrachte Leistungen zunächst als Anlass zu verstehen, gezielt beratend und unterstützend aktiv zu werden, und Leistungen nur dann zu bewerten, wenn sie – auch relativ zur individuellen Bezugsnorm – besonders gut sind.

Als sinnvolle Ergänzung zu pointierten Rückmeldungen durch die Lehrenden kann das Peer-Feedback dienen. „Peer-Feedback“ ist eine Bezeichnung für Rückmeldungen unter Lernenden, die sich empirisch als äußerst wirksam erwiesen hat. Damit sie stattfindet, muss sie jedoch wahrscheinlich gemacht und in eine sinnvolle Routine eingebettet werden. Beim Distanzlernen arbeiten die Schülerinnen und Schüler isoliert. Peer-Feedback zeigt, dass andere in derselben Situation sind und sich die Lernenden gegenseitig unterstützen können.

Damit Peer-Feedback regelmäßig erfolgt, muss es niederschwellig möglich sein: Per Anruf oder in einem Chat-Tool können sich Schülerinnen und Schüler schnell und direkt Rückmeldungen geben, die sich nicht nur auf ein Endprodukt, sondern im Sinne des formativen Assessments auch auf den Lernprozess beziehen können.

Eine andere Form des Feedbacks kann durch die Öffnung des Unterrichts ermöglicht werden. Gerade dann, wenn digitale Medien zur Produktion von Lerninhalten genutzt werden können (z.B. Blogbeiträge, Videos oder Postings in sozialen Netzwerken) lassen sich gezielt Personenkreise adressieren, die qualifizierte Rückmeldungen (z.B. in Form von Kommentaren) geben können.

Gleichwohl braucht es auch Feedback von Lehrerinnen und Lehrern. Es ist deshalb sinnvoll, dass das Feedback von Lehrerinnen und Lehrern zumindest in bestimmten Situationen selektiv und exemplarisch erfolgt: Eine kurze Videobotschaft an die ganze Klasse kann dann wirksamer sein als individuelle Rückmeldungen auf alle Arbeiten der Schülerinnen und Schüler.

Kurz: Wenn Schülerinnen und Schüler untereinander konstruktive Rückmeldungen zu ihren Lernprozessen und -produkten verfassen, können Lehrerinnen und Lehrer auch im Bereich des Feedbacks Kontrolle abgeben.

Kommentar: Die Frage, ob mehr Peer-Feedback oder mehr Feedback durch die Lehrenden gegeben wird, ist ein Aspekt des schüler- bzw. lehrerzentrierten Unterrichts. Was dabei nicht aus den Augen verloren werden darf: je partizipativer und schülerzentrierter der Unterricht ist, desto eher wird auch die sachhaltige Richtigkeit der Inhalte vernachlässigt. Überspitzt könnte man das Prinzip eines beziehungsorientierten schülerzentrierten Unterrichts so formulieren: „Hauptsache jede*r beteiligt sich und hat etwas gesagt. Ob das Gesagte auch richtig ist, ist nicht so wichtig.“ Am anderen Ende der Skala steht der wissenschaftsorientierte lehrerzentrierte Frontalunterricht, bei dem die Lehrenden sachorientiert über die Köpfer der Schüler*innen hinweg dozieren. Das Prinzip dieses Unterrichts könnte lauten: „Hauptsache das Gesagte ist richtig, ob die Schüler*innen mitkommen und sich beteiligen, ist egal.“ Man kann dieses Verhältnis am besten im didaktischen Dreieck abbilden, da es hier nicht nur zwei Pole, wie in der Antinomie gibt, sondern das für die Didaktik wesentliche „Dritte“ – der zu vermittelnde Gegenstand – hinzu kommt. (vgl. Gruscka 2002)

Abbildung 1

Die Eckpunkte des Dreiecks sind: Lehrende – Gegenstand – Lernende. Der Gegenstand ist in schulischen Kontexten in aller Regel immer schon eine didaktische Reduktion des Objekts, um das Lernen zu ereleichtern. Die Reduktion von Komplexität kann aber auch zu einer Verzerrung bis zur Unkenntlichkeit führen und so das Lernen letztendlich verunmöglichen. Das didaktische Dreieck kann nun je nach Lehrer*innen- und Lerner*innentypus ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Diederich (1988) hat eine spielerische, doch ernst zu nehmende, Interpretation einiger dieser Varianten des didaktischen Dreiecks vorgenommen.

Abbildung 2 Diederich (1988, S.256)

Beispielhaft greife ich hier drei Interpretation heraus:

Das didaktische Dreieck ist eine grafische Darstellung des Sachverhalts, daß es im Unterricht immer um etwas „Drittes“ geht. Es gibt außer den Schülern (S) und dem Lehrer (L) den Stoff oder die Sache; ich sage „Gegenstand (G), weil der Gegenstand auch die Beziehung zwischen Schülern oder S und L sein können (Bild 1a).

Für „wissenschaftsorientierten Unterricht“ müßte man stattdessen Bidl 1b nehmen und damit ausdrücken, daß der Gegenstand oberhalb dessen, was Lehrer und Schüler tun, angesiedelt vielleicht ein Kulturgut ist, dem beide mit Ehrfurcht, wenigstens Respekt zu begegnen haben.

In Schulkritik geübte Leute, wie es z.B Schüler sind, würden hingegen Bild 1c zeichnen. Um damit zu sagen, wie die Schüler unter beidem leiden, Lehrern und Gegenständen (zu großem Leid passt besser Bild 4b).

vgl. Diederich (1988, S.256f.)

Was fällt euch zu den Varianten 2a – 4c ein? Wie würdet ihr Euren eigenen Lehrstil in einem Dreieck darstellen?

Möchte man diesen Aspekt Peer-Feedback vs. Lehrer*innen-Feedback einordnen in die antinomischen Grundstrukturen des Lehrerhandelns, so findet sich dieser am ehesten in dem Spannungsfeld Organisation vs Interaktion wieder. Die Schule folgt als Organisation einer „bürokratischen Rationalität“. Bestimmte Zeit-, Raum- und Verfahrensregelungen überformen oftmals die Bedürfnisse von Gruppen und einzelnen Menschen. Es besteht die Gefahr einer Verselbständigung der bürokratischen Rationalität und damit einer Tendenz zu subsumptiv-abstrakter, zeitlich standardisierter, distanzierter und partialisierter Handlungsmuster“ (Helsper 1996, S.535) Diese Bürokratisierung kann Segen und Fluch, Entlastung und Erstarrung zugleich sein. So haben Schüler*innen sicher das Bedürfnis, dass ihre Leistungen in der Schule anerkannt und nach einem universalistischen Maßstab gerecht bewertet werden. Und auch dass sie als Mensch gesehen und die Lehrenden ihnen gerecht werden.

Wie kann man Peer-Feedback tatsächlich wahrscheinlich machen, ohne dass es zu einer lästigen Pflicht wird, die unter Umständen selbst wieder durch die damit möglicherweise verbundene Bewertung und Benotung durch die Lehrkraft überformt wird. Das Ziel ist, dass die Schüler*innen sich gegenseitig authentisches Feedback geben, das sowohl wertschätzend und anerkennend als auch sachhaltig ist. Als Voraussetzung dafür müsste eine kooperative Atmosphäre im Unterricht realisiert werden. Es müsste eine Fehlerkultur entwickelt werden, in der Fehler als Chance gesehen werden, etwas Neues zu lernen, und nicht als Anlass für eine Leistungsbewertung. Dies sind Fragen der Lernkultur, die in einer Klasse, in einer Schule, in einer Gesellschaft vorherrscht. In einer Lernkultur, die mehr an dem Prozess selbst interessiert ist als an dem Ergebnis, die diesen Prozess für alle Beteiligten transparent macht, schafft auch mehr Akzeptanz für Fehler und kooperative Lernformen. In so einer Kultur kann auch ein Peerfeedback Früchte tragen. (Eine andere Lernkultur, die auch zu anderen Ergebnissen führt beschreibt Brecht in seinem Text „Unser bester Lehrer“) Mediengestützte Lernsettings in einer digitalen Lernumgebung bieten hier unter Umständen eine Chance den Arbeitsprozess für Andere sichtbar zu machen und so kooperative Lernformen zu fördern. Technisch muss das Feedback natürlich auf möglichst einfachem Wege möglich sein und sollte auch in Aufgabenstellungen integriert werden.

Die Punkte „synchrone vs. asynchrone Kommunikation“ und „alte vs. neue Technik“ enthalten in meinen Augen keine wirklich antinomische Grundstruktur. Es geht vielmehr um Übergänge, die nicht ganz scharf abzugrenzen sind. So hat der PC viele „alte“ Medien integriert. Bei asynchroner vs. synchroner Kommunikation weiß ich nicht, ob es da eine klare trennscharfe Unterscheidung überhaupt gibt Ist ein Chat noch synchron, wenn man mit zehn Minuten Verzögerung antwortet? Und schließen sich die beiden Kommunikationsformen wirklich aus?

Literatur

Diederich, Jürgen (1988): Didaktisches Denken. Eine Einführung in Anspruch und Aufgabe, Möglichkeiten und Grenzen der Allgemeinen Didaktik. Weinheim. Juventa.

Helsper, Werner (1996): Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. Aus: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt a.M.: Suhrkamp . S.521-569

Gruschka, Andreas (2002): Didaktik. Das Kreuz mit der Vermittlung. Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb. Wetzlar: Büchse der Pandora Verlag.

6 Kommentare zu „Konstitutive antinomische Strukturen des pädagogischen Handelns (Teil 2)

  1. Auch in der Hochschule funktioniert Peer Feedback oder Peer Review selbst bei relativ technischen und komplexen Themen sehr gut, wenn es ordentlich organisiert und angeleitet ist. Siehe dazu z.B. „Personalisierbare Aufgaben und anonymer Peer Review“:

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    1. Hallo Mathias,

      vielen Dank für deinen Kommentar. Das Video habe ich mit großem Interesse geschaut. Deine technische Umsetzung des Peer-Feedbacks sieht cool aus. Interessant ist auch, dass die Feedback tatsächlich verteilt über den Zeitraum gegeben werden. Das entspricht auch meiner persönlichen Erfahrung im Studium, wenn ich selbst in einem Lerntakt eine Aufgabe zu bearbeiten hatte und Mitstudierenden Feedback geben musste, habe ich das Feedback meistens eher zwischendrin gemacht und die Aufgabe am Schluss. Das ist lernpsychologisch sicher ein gutes Argument dafür denke ich.

      Tatsächlich habe ich den Blogbeitrag aus einer eher misslingenden Praxiserfahrung heraus verfasst und nicht, weil das mit dem Peer-Feedback bei mir bisher so gut funktioniert hätte. Gerade wenn etwas nicht läuft, fängt man ja in der Regel an darüber nachzudenken. Meine Erfahrung ist, das sich das mit dem Peer-Feedback oft eher zäh gestaltet. Das kann sicher unterschiedliche Gründe haben. Ich habe da jetzt die Lernkultur als Hauptgrund ausgemacht.

      Es gibt da sicher auch unterschiedliche Fachkulturen in Rechnung zu stellen. In Mathematik ist die Bereitschaft bei der Lösung mit anderen zu kooperieren meiner Erfahrung nach wesentlich höher als in den sogenannten „Laberfächern“, wie Pädagogik. Böse Zungen würden jetzt vielleicht behaupten, dass es in diesen Fächern halt weniger um „objektive“ Inhalte, sondern um Profilierung geht. Möglicherweise geht es in diesen Fächern aber auch wesentlich stärker um nicht standardisierbare Problemlösungen und damit auch um die Anerkennung der Fähigkeit, den individuellen Fall in der Praxis zu erschließen und dann das jeweils passende theoretische Wissen aus dem Fall heraus zu finden und anzuwenden.

      Personalisierte Aufgaben sind meiner Meinung nach in jedem Fall sinnvoll, wenn man Peer-Feedback umsetzen möchte. Wenn alle dieselbe Aufgabe bearbeiten geht der Witz des Peer-Feedbacks ein bisschen verloren meine ich.

      Auch muss Feedback meiner Meinung nach geben selbst erlernt werden. Viele fühlen sich da vielleicht auch unsicher, geradewenn man den objektiven Bereich der Zahlen verlässt und es um eher „schwammige“ Inhalte geht. Die Inhalte eines anderen zu bewerten fällt einigen schwer. Insbesondere wenn er keine Fehlerkultur gibt, ist die Hemmschwelle hoch.

      Und dann ist in Kontexten wie Studium oder Schule wahrscheinlich immer noch eine extrinsische Motivation in Form von Punkten oder Benotung notwendig, um das Peer-Feedback überhaupt in Gang zu bringen.

      Liebe Grüße
      Max

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      1. Hallo Max, dem kann ich nur zustimmen. Auch bei uns braucht es extrinsische Motivation für das Feedback (die Studierenden bekommen nur Punkte auf ihre eigene Lösung, wenn sie sich auch an der gegenseitigen Korrektur beteiligen) und ich denke, es kommt leider nur selten vor, dass Studierende sich außerhalb dieser Aufgaben gegenseitig Feedback auf ihre Lernprodukte geben (vielleicht bekomme ich es aber auch einfach nicht mit).
        Ansonsten sind die Erfahrungen mit dem von uns organisierten Peer Review durchweg sehr gut. Die Studierenden führen die gegenseitige Begutachtung im Normalfall sehr ausführlich, sehr gründlich, sehr aufmerksam und sehr gewissenhaft durch. Man kontrolliert in den meisten Fällen so, wie man auch selbst gern kontrolliert werden möchte. Dabei wird auf Fairness großen Wert gelegt. Weder wird großzügig über offensichtliche Fehler hinweggesehen, um beliebig möglichst viele Punkte zu verteilen, noch werden haarspalterisch Fehler in kleinsten Details gesucht, um möglichst viele Punkte abzuziehen. Diese sehr positive Erfahrung mit dem Peer Review haben wir auch in anderen, eher überfachlichen Lehrveranstaltungen, z.B. zum wissenschaftlichen Schreiben gemacht.

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      2. Interessant wäre ja die Frage, ob eine kooperative Lernkultur in einer (Hoch-)Schule denkbar wäre oder eventuell schon praktiziert wird, in der sich die Lernenden aus mehr intrinsischer Motivation heraus gegenseitig Feedback geben. Die Unterscheidung intrinsisch / extrinsisch ist ja auch nicht immer so ganz eindeutig. So kann eine zunächst extrinsische Motivation ja auch zu einer intrinsischen werden.

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      3. Eine kooperative Lernkultur ist auf jeden Fall denkbar, braucht aber viel didaktisches Geschick sowie eine gute Organisation in der Umsetzung. Außerdem müssen die Studierenden natürlich nicht nur Lust, sondern auch Zeit dafür haben, die es gerade in den vollgepackten Bachelor-Studiengängen nicht wirklich gibt. Ansonsten haben wir ganz gute Erfahrungen mit der HAITI-Methode gemacht, in der sich die Studierenden auch ganz nebenbei Rückmeldung zu Ihren Lösungsansätzen und -wegen geben, die in einem Online-Semester aber viel schwieriger umzusetzen ist. Hier sind einige Informationen dazu:

        Klicke, um auf junige-handout.pdf zuzugreifen

        https://tu-freiberg.de/sites/default/files/media/fakultaet-fuer-mathematik-und-informatik-fakultaet-1-9277/lorz/lit-shortcut-2014-03-20.pptx

        HAITI-Methode, Live Quizzes, Video-Klausurbesprechungen, Twitter-Challenge – Was geht und was nicht?
        http://openlecture.uni-halle.de/episode/3f9716c5-1f25-4cba-8dbc-18690e016793

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