Beschämung, Leistungsdruck und Anerkennung in der Pädagogik


In pädagogischen Einrichtungen gibt es vielfältige Situationen, in denen Beschämungen statt finden. Es handelt sich dabei um Formen psychischer Gewalt wie „Machtmißbrauch, Diskriminierung, Kränkung, Bloßstellung, Erniedrigung und Ausgrenzung“ (Hafeneger 2013, S.11). Der Erziehungswissenschaftler Hafeneger weist darauf hin, dass diese Gewalt gerade in ihren subtilen Formen auch in professionell-pädagogischen Verhaltensweisen wie „Ignorieren, Vernachlässigen, ungerechte[r] Behandlung, bestimmte Formen der Nachrede, Einreden von fehlender Begabung, Beschämung wegen Persönlichkeits- und Herkunftsmerkmalen, Lächerlich- oder Fertigmachen, Vorführen, Bloßstellen oder auch Belasten mit Schuldvorwürfen“ (ebd., S. 11 ) zu finden ist. Wobei diesen Verhaltensweisen hier sicher keine pädagogische Professionalität zugesprochen werden soll in einem Sinne, dass dieses Verhalten eine vorbildhafte pädagogischen Praxis darstellt, vielmehr werden diese Verhaltensformen von vielen pädagogischen Fachkräften in der Praxis an den Tag gelegt.

Psychoanalytische Erklärung von Scham

In der Psychoanalyse wird die Scham häufig als ein innerpsychischer Konflikt zwischen Trieb und verbietendem Über-Ich oder einer Diskrepanz zwischen realem Selbst und Ideal-Selbst aufgefasst. Demnach ist ein Bedürfnis, dessen Befriedigung nicht erlaubt ist, der Auslöser von Scham. (Freud ging von einem exhibitionistischen Trieb als Ausgangspunkt des Schamgefühls, das eine Reaktionsbildung auf diesen Trieb darstellt, aus.) Oder ich habe die Vorstellung eines idealen Selbst verinnerlicht, der ich nicht gerecht werden kann, was wiederum Scham auslöst. Diese Erklärungen gehen von einem innerlichen Vorgang im Individuum aus. Demgegenüber wird in der relationalen und intersubjektiven Psychoanalyse Scham vor allem als ein soziales Gefühl aufgefasst, das in der sozialen Interaktion entsteht.

„Eine Arbeitshypothese lautet dabei, dass Scham in erster Linie als ein intersubjektives Geschehen konzipiert werden muss. Das Spiel von Verbergen, Enthüllung und Sich-Zeigen ist primär ein sozialer Vorgang. Der ‚Blick des Anderen‘ – auch der fantasierte Blick – ist das entscheidende Moment.“ (Tiedemann 2013, S.30) Wer sich schämt, möchte am liebsten im Boden versinken, wendet den Blick ab, möchte nicht mehr dem Blick des Anderen ausgesetzt sein.

Der verachtende und der anerkennende Blick

Es wird in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass Scham schon von Babys empfunden werden kann, wenn ihr Bedürfnis nach Anerkennung frustriert wird. Wenn die affektive Resonanz, der spiegelnde Blick, der primären Bezugspersonen als Antwort auf den Ausdruck dieses Bedürfnisses fehlt, entsteht bei den Babys eine massive und existenzielle „Urscham“ (Wurmser). In dem verachtenden oder kalten Blick der Bezugsperson wird die Botschaft „Du bist nicht liebenswert, so wie du bist“ erkannt und verinnerlicht. (vgl. Tiedemann 2019, S.79) Diese Urscham wird auch im späteren Erwachsenenleben noch wirksam als Gefühl, dass „etwas mit mir nicht stimmt“. In diesem frühen Alter kann der Auslöser noch nicht in einem Spannungszustand von Ich und Ich-Ideal bestehen, vielmehr ist anzunehmen, dass es um ein grundlegende Selbstverneinung, das Gefühl, im tiefsten Inneren nicht liebenswert zu sein, geht. Scham kann von Schuld abgegrenzt werden, insoweit es bei Scham um das So-Sein des Selbst geht, während es bei der Schuld um das Handeln des Selbst geht.

Eine gesunde Scham schützt und reguliert zwischenmenschliche Beziehungen und das Selbstwertgefühl. Dagegen entwickelt pathologische oder traumatisierende Scham eine Dynamik, die sehr belastend bis unerträglich werden kann.

Beschämung in der Pädagogik

In der Schule ist Beschämung in der Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler*innen vor allem ein Instrument des vorgegebenen Leistungs-, Zensuren-, und Selektionszwanges (vgl. Hafeneger 2013, S.72). Die Technik der Prüfung mit der Dokumentation des Unwissens und die Degradierung zählen in diesem Zusammenhang zu den verbreiteten sozialen Beschämungstechniken (vgl. ebd., S.60). Schule hat durch die Selektionsfunktion, die ihr gesellschaftlich zukommt, strukturell auch den Effekt erfolgszuversichtliche Aufsteiger und misserfolgsängstliche Sitzenbleiber oder Absteiger zu produzieren. Schüler an einer Hauptschule zu sein, kann heutzutage generell schon als Stigma wirken.

In einer Gruppendiskussion mit Teilnehmer*innen des Berufsgrundbildungsjahres (BGJ) an einem Berufskolleg in einer Studie von Weiß (2014) geht es auch um das Thema des gesellschaftlichen Anerkennungsdefizits der Hauptschule und den Umgang damit. Alle Teilnehmenden haben einen Hauptschulabschluss an unterschiedlichen Schulformen erworben. Ein Jugendlicher hat die Oberstufe eines Gymnasiums besucht und nach zweimaliger Nicht-Versetzung mit einem Hauptschulabschluss verlassen müssen. Nachdem er schildert, wie intensiv am Gymnasium Computer genutzt wurden, wird in der Passage auf diesen Jugendlichen Bezug genommen.

m1: Irgendwie ist das voll beschämend, Hauptschüler zu sein. Interv.: Wie bitte? m1: Es ist beschämend ein Hauptschüler zu sein, wenn man neben ihm sitzt. Interv.: Warum? m1: Weil der so mit gutem Deutsch kommt und naja (…) weil bei uns ist ja der Unterrichtsstoff ein bisschen vereinfacht und so. Und der hat ja besseres Deutsch gelernt als ich. Und der redet (…)┌m4┐ Ja, genau, also mit Fachwörtern. ┌m4┐ in Fachwörtern.

In diesem Fall werden die Scham und die Gefühle der Unterlegenheit dadurch bewältigt, dass ein weiterer Schulbesuch mit dem Ziel der Fachoberschulreife angestrebt wird.

m5: Es gibt sogar Leute, die mit keinem Abschluss ┌Interv.┐ eine Ausbildung bekommen haben. Interv.: Aber sie sagen, mit FOR… m1: Kommt´s besser rüber. Sagen wir mal so. m2: Man fühlt sich auch besser irgendwie. m4: Ja, man fühlt sich dann so, ja so… m3: Like a boss. \>Lachen< m2: Like a boss. >Lachend< m1: Man möchte auch die Eltern stolz machen. ┌m4┐ Verstehen sie, was ich meine? Wenn man nichts hat, kommt man auch ┌Interv.┐ voll blöd rüber. ┌m4┐ : Ja. ┌Interv.┐: Mmh.

Hier wird deutlich wie sehr strukturelle Bedingungen von Bildung zu einer Erfahrung von Beschämung beitragen können. Aber auch in Interaktionen können Beschämungen finden. Besonders prädestiniert für beschämendes Verhalten wie etwa Bloßstellen, Vorführen, Erniedrigen oder alleine lassen ist sicher der Schulsport durch seine präsente Körperlichkeit. Aber auch in Mathematik kann etwa das Vorrechnen einer Aufgabe an der Tafel als eine Prüfung, die das Nichtwissen des Schülers dokumentiert, eine beschämende Erfahrung sein.

Beschämung der Pädagogik

Pädagog*innen werden als Rollenträger*innen im Bildungssystem selbst zur Zielscheibe von Beschämung und Verachtung. So wird professionellen Pädagog*innen einerseits eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe zugeschrieben und andererseits aber ein praktisches Versagen zugerechnet. Sie sollen die Kinder unter Zeit- und Stoffdruck auf die Zukunft und die komplexe gesellschaftliche Realität vorbereiten.
Die Schule wird als Ort der sozialen Distinktion und als Bühne für einen Kampf um Privilegien genutzt. Gerade Eltern aus der bildungsbeflissenen Mittelschicht können in eine „Statuspanik“ und Angst vor sozialem Abstieg geraten und die schulische Laufbahn und den Erfolg ihrer Kinder zu ihrem „Projekt“ machen. Nicht selten geraten dann die angeblich „böswilligen“ und „unfähigen“ Lehrer*innen, die „schlechte“ Schule und die „unfähige“ Schulleitung in den Fokus dieser Eltern.

Darüber hinaus gibt es seit der Herausbildung der Pädagogik als Profession das gesellschaftliche Phänomen der Beschimpfung, Verachtung und Geringschätzung der Pädagogik als Disziplin, der pädagogischen Einrichtungen sowie der einzelnen pädagogischen Professionen.

Ausblicke

Zu den Folgen von einer Beschämungspädagogik schreibt Hafeneger (2013, S.114):

„Die Erfahrungen mit Scham und Beschämung sind für die Betroffenen in ihrer intellektuellen, emotionalen und gesundheitlichen Entwicklung, in der Bewältigung von Entwicklungsherausforderungen im Prozess des Erwachsenwerdens und Identitätsaufbaus folgenreich. Sie [die Betroffenen] können mit Schul- und Leistungsverweigerung, körperlichen (z.B. Erröten) oder mit unterschiedlichen Formen der Abwehr (z.B. Rückzug, Verachtung, Zynismus, dissoziales Verhalten, Größenphantasien und Arroganz, sowie einer Umkehr der Beschämung) reagieren. Weiter können ängstliche und resignative Verhaltensweisen, Verzweiflungs-, Ohnmachts-, Einsamkeits-, und Verlassenheitsgefühle entstehen; Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit, Handlungssicherheit, Kreativität und Interesse […], Kompetenzentwicklung und Lernprozesse können blockiert werden.“

Doch was könnte an die Stelle eines Zensuren- und Leistungsdrucks treten, wenn man annimmt, dass der Selektionszwang als gesellschaftlicher Auftrag an die Schule nicht verschwinden wird und auch nicht verleugnet werden kann? Wie kann man Kindern und Jugendlichen Räume und Zeiten bieten, die ohne Angst vor Beschämung und Versagen für eine produktiven Aneignung genutzt werden können?

  • Vielversprechend erscheint die Idee der kooperativen Projektarbeit. Diese Idee des selbstorganisierten und kooperativen Lernens erlebte zuletzt in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eine Renaissance. In diesem Zuge wurden auch vielfach die Projektwochen an den Schulen eingeführt.
  • Eine Fehlerkultur, die zu einen produktiven und lernförderlichen Umgang mit Nicht-Wissen findet und die Schüler*innen zur Neugier ermuntert.
  • Eine Pädagogik der Anerkennung (Hafeneger, Henkenberg, Scherr 2007) bildet gewissermaßen den Gegenpol zu einer Beschämungspädagogik. Sie zielt auf eine wertschätzende Interaktion, die lern- und entwicklungsfördernd wirkt und individuelle Autonomie ermöglicht.

Literatur

  • Hafeneger, Benno; Henkenborg, Peter; Scherr, Alfred (Hrsg.) (2007): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. 2. Aufl. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verl. (Reihe Politik und Bildung, 27).
  • Hafeneger, Benno (2013): Beschimpfen, bloßstellen, erniedrigen. Beschämung in der Pädagogik. Frankfurt a.M.: Brandes Apsel Verlag.
  • Tiedemann, Jens (2013): Scham. Gießen: Psychosozial-Verlag
  • Weiß, Ulrich (2014): „Like a Boss!“ – Eine subjektzentrierte Perspektive auf verzögerte Übergänge bei Jugendlichen im Berufsgrundbildungsjahr. In: Berufs- und Wirtschaftspädagogik (27). Online verfügbar unter http://www.bwpat.de/ausgabe27/weiss_bwpat27.pdf, zuletzt geprüft am 30.12.2020.

2 Kommentare zu „Beschämung, Leistungsdruck und Anerkennung in der Pädagogik

  1. danke für den Beitrag- in dem Zusammenhang gibt es auch die Reckahner Reflexionen, die beschreiben, was in pädagogischen Settings nicht zulässig ist und was ethisch berechtigt ist!

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    1. Liebe Anne,

      danke dir für den Hinweis auf die Reckahner Reflexionen. Die kannte ich noch nicht. Die positiven Formulierung als Leitlinien für pädagogische Beziehungen finde ich sehr hilfreich.

      Viele Grüße
      Max

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